Wie das Gehirn die Seele macht by Roth Gerhard; Strüber Nicole

Wie das Gehirn die Seele macht by Roth Gerhard; Strüber Nicole

Autor:Roth, Gerhard; Strüber, Nicole
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Klett-Cotta
veröffentlicht: 2014-06-14T16:00:00+00:00


Geist und Bewusstsein als emergente physikalische Eigenschaften

Die Unmöglichkeit, von Aktivitätsmustern im Gehirn unmittelbar auf Zustände subjektiven Erlebens zu schließen, scheint Wasser auf die Mühlen derjenigen Philosophen zu sein, die von einer fundamentalen Erklärungslücke (fundamental explanatory gap) in der Neurophilosophie sprechen (Levine 2003; Chalmers 1996; McGinn 2001): »Ihr Neurobiologen« – so könnte es polemisierend heißen – »habt das Wichtigste nicht erklärt, nämlich wie es sich anfühlt, Bewusstsein zu haben. Und das werdet ihr auch niemals erklären können!« Es gibt eine umfangreiche philosophische Diskussion darüber, ob dieses Problem nicht etwa ein Scheinproblem ist, eines von vielen, die es in der Philosophie leider gibt. Wir wollen den Einwand, es bestünde eine fundamentale Erklärungslücke, aber ernst nehmen.

Der wesentliche Mangel einer solchen Argumentation besteht darin, dass sie als einzigartig ausgibt, was sich in der wissenschaftlichen Betrachtung der Natur sehr häufig findet, nämlich die Tatsache, dass bestimmte Phänomene vorerst oder vielleicht sogar für alle Zeiten unerklärlich sind, und man sich mit dieser Unerklärlichkeit gegebenenfalls abfinden muss. In der modernen Physik betrifft dies die »Verschränkung« quantenphysikalischer Prozesse, die Natur der Gravitation oder des Lichts und die Nichtübersteigbarkeit der Lichtgeschwindigkeit (vgl. Zeilinger 2003). Betrachten wir die Biowissenschaften und erst recht die Evolutionsbiologie, so ist dort fast alles nicht genau erklärt, sondern höchstens ziemlich plausibel gemacht. Überall finden sich »neuartige« oder »emergente« Eigenschaften wie das Leben selber, der aerobe Stoffwechsel, die Evolution von Gliedmaßen und von Nervensystemen und Gehirnen, um nur ganz wenige Beispiele zu nennen (vgl. Roth 2013). Innerhalb dieser Theorie werden üblicherweise schwach und stark emergente Eigenschaften eines Systems unterschieden (McLaughlin 1997; Stephan 2005). Schwach emergente Eigenschaften sind solche Eigenschaften, die auf höheren Ebenen des Systems aufgrund von Wechselwirkungen der Komponenten untereinander entstehen, nicht aber auf der Ebene der einzelnen Komponenten selbst zu finden sind. Bei genügender Kenntnis und hinreichend einfachen Systemen lassen sich solche schwach emergenten Eigenschaften vorhersagen, z. B. die Eigenschaften des Kochsalzes aus denen seiner Komponenten Natrium und Chlorid. Stark emergente Systemeigenschaften sind nach klassischer Auffassung hingegen solche, die sich auch aus der genauesten Kenntnis der Eigenschaften der Systemkomponenten nicht vorhersagen lassen. Ob es solche stark emergenten Eigenschaften überhaupt gibt, ist unklar, denn wir können nicht wissen, ob wir irgendetwas niemals wissen werden.



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